Nun versuchen wir uns einmal die andere Seite zu beleuchten: wir gehen immer noch von derselben Frage aus. Ihr erinnert euch? Die Frage, ob es für den Menschen sinnvoll ist, schmerzliche Erinnerungen auszulöschen, mit Hilfe der Medizin / Wissenschaft. Eine bunte Tablette und jede beliebige Erinnerung kann vergessen werden, ungeschehen gemacht werden, emotionaler ground zero sozusagen.
Ist so eine Pille die Lösung um endlich, losgelöst von negativen Emotionen der Vergangenheit, den Augenblick zu genießen, glücklich zu leben?
Oder ist das Löschen beliebiger (schmerzlicher) Erinnerungen mit Vorsicht zu genießen?
Hier also die Gegenseite – machen wir es uns damit nicht zu leicht? Formen Erfahrungen nicht unseren Charakter? Wir scheitern, fallen hin und stehen auf, wachsen, lernen dazu. Negative Erfahrungen müssen nicht zwangsläufig ein Scheitern am Leben bedeuten, wir können aus ihnen lernen.
Ein Löschen solcher negativer Erfahrungen oder Erinnerungen würde bedeuten, einen Teil des Weges zu eliminieren, den wir hinter uns gebracht haben, um zu werden wer wir sind. Sind wir also nach so einem Löschvorgang noch dieselben? Ich meine, wir nehmen damit einen Teil dessen weg, was unsere Persönlichkeit geprägt hat - kann unsere Persönlichkeit dann noch die "unsrige" sein?
Eine andere Überlegung – können wir ohne Negativität noch das Positive im Leben sehen, erfahren? Nach dem Motto, woher wissen dass etwas weiß ist, wenn man schwarz nicht kennt. Stellt sich dann nicht ein Gefühl der Gefühllosigkeit ein, endet das Ganze in der Depression?
Hier würde ich ebenfalls wieder Nietzsche bemühen, der in „Die Geburt der Tragödie – aus dem Geiste der Musik“ von der Duplizität des Apollinischen und Dionysischen spricht. Zwei Kräfte die gegeneinander kämpfen und sich gegenseitig bedingen – eines kann ohne das andere nicht sein.
Das Apollinische steht für alles Schöne in der Welt, für den schönen Schein, Klarheit, das Fassbare; das Dionysische ist das Unfassbare, das Unerklärliche, der Rausch, das Chaos und auch der Schmerz.
Wir brauchen den schönen Schein, das Apollinische um das Leben und seine dionysischen Elemente ertragen zu können – doch wenn dieser Schein zur Wahrheit wird, das Dionysische vergessen wird, dann verlernen wir das „Schmerz-Fühlen“, wir sind geprägt von einem Übermaß an Positivität. Nietzsche hat es vorausgesagt, verschwindet das Dionysische, so entgleitet auch das Apollinische in eine Abart. Denn das eine kann ohne das andere nicht sein – das liegt begründet in der Duplizität der beiden.
Tilgen wir also schmerzliche Erfahrungen, Erinnerungen – namentlich das Dionysische – aus unserem Erinnerungsvermögen, so können wir den Schein des Apollinischen nicht mehr entlarven, er wird zu neuen Wahrheit. Wir wollen nur noch positive Empfindungen und alles Negative löschen – Happy ever after, forever. Aber wie können wir noch sagen, ich hatte ein schönes Erlebnis, wenn ich mich nicht mehr erinnere, wie ein schlechter Moment aussieht? Wie kann ich jemals aufrichtig und wahrhaftig tiefe Liebe empfinden, wenn ich niemals den unerträglichen Schmerz des Liebens erfahren habe?
Ich denke, das Eliminieren des Schmerzlichen hat fatale Folgen – das Gefühl der Gefühllosigkeit: Gleichgültigkeit. Denn wir fühlen zwar keine Schmerzen mehr, aber ohne den Kontrast zwischen schmerzlichen und freudigen Erlebnissen / Erinnerungen - was bleibt da noch? Reines, pures, immer fortwährendes Glück? Wohl kaum.
Wollen wir das wirklich? Eine kleine Pille schlucken, negative Erinnerungen löschen und lieber Gleichgültigkeit empfinden als Schmerzen? Schmerzen können überwunden werden, die Gleichgültigkeit ist nahezu unüberwindbar. An ihr kann der Mensch verzweifeln, denn dann hat er nicht nur den Zugang zur Welt verloren, sondern auch den Zugang zu sich selbst.
So, nun ist es wieder an euch! Macht euch Gedanken - pro Pille oder dagegen?
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